An Dr. Heribert Prantl
Chefredaktion & Ressortleitung Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung
13.07.2012
„Vorlautes Urteil“
Lieber Herr Dr. Prantl!
Seit gut 50 Jahren bin ich SZ-Leser, acht Jahre lang war ich leitender SV-Verlagsmitarbeiter, an die 20 Jahre freier
Mitarbeiter von Redaktion und Verlag. Die SZ war mir – wie einem Kreis engerer Freunde & Gefährten – über lange Zeit ein tägliches Vademecum. Ich sah meist Grund, stolz darauf zu sein, für dieses
Medium arbeiten zu dürfen.
Die Verbundenheit ließ sich auch nicht lösen, seit sich die inhaltlichen Übereinstimmungen verflüchtigten, also etwa
seit in den Gastphasen der Joffe
& Busche meine SZ völkerrechtswidrige Angriffskriege und verfassungs-problematische Bundeswehr-Kriegseinsätze befürwortet, die Zerschlagung des Sozialstaats vielstimmig begrüßt, mit Piper &
Beise den Neoliberalismus mit all seinen menschenunwürdigen Wirkungen promotet, sogar einzelne Verkünder faschistoider, rassistischer, biologistischer Tendenzen feiert (zuletzt Bisky zu Baring,
Hohmann & Sarrazin), schließlich den gesetzwidrigen Waffenhandel
in Kriegs- oder Spanungsgebiete rechtfertigt .....
In meinen engeren Kontaktkreisen, wo sich dieser Wahrnehmungswandel parallel zum Haltungswandel dieser Zeitung in
Betroffenheit ausbreitete, blieb uns aber durchgängig eine Art Trostformel, nämlich: Auf dem zentralen Gebiet der Verfassungs-, Menschen- und Bürgerrechte steht die SZ unverrückt, mit Kerscher und
Holzhaider etwa, im Geiste Müller-Meiningens. Dafür garantiert und arbeitet zentral schon der Dr. Heribert Prantl. Nie habe ich bisher Anlass gesehen, diese Gewissheit zu
relativieren.
Bis heute.
Nahezu fassungslos habe ich Ihren heutigen Kommentar auf Meinungsseite 4 dreimal gelesen - und kann es immer
noch nicht packen, solche Jurisdreherei
aus Ihren Tasten nachvollziehen zu sollen.
Den Gipfel einer für gerade Sie unbegreiflichen 180-Grad-Drehung stellt Ihre Behauptung dar, Beschneidung –
also ein Eingriff in die Unverletzlichkeit der Person eines unmündigen, somit entscheidungs- und selbstbestimmungs-unfähigen Säuglings – sei "Würdigung", im Gegensatz zur Herabwürdigung
durch körperliche Züchtigung, Körperverletzung ergo höherwertig bzw. weniger schlimm als Hiebe. Und solche Würdigung mache diesen wehrlosen Menschen, also das Objekt eines ungefragten Eingriffs an
seinem Körper, zum "Subjekt". Objekt wird "Subjekt" – vermittels "Glauben".
Ist das wirklich ihr Ernst? Nicht bloß eine rabulistische, bedeutungs- und sinn-umwertende Dialektik? Das
wehrlose Objekt wird zum "Subjekt des Glaubens"
– den es überhaupt nicht kennt, erst später vielleicht für sich gewinnen mag,
je nachdem, welche Fremdbestimmungskräfte, nämlich: Indoktrinationen, per Erziehung auf es einwirken?
Ich ließe ja noch gedankenspielend mit mir rechten, wenn es hier um die christliche Zwangstaufe an wehr-, weil
bewusstseinslosen Frühkindmenschlein ginge, derer man sich im Zustand der Mündigkeit später auch ohne physische Blessuren entschlagen kann, wie es inzwischen Angehörige der deutschen Bevölkerung
millionenfach tun – allerdings nicht ohne oft lebenslange Leidens-kämpfe im Bereich der Psyche durchstehen zu müssen. Aber dabei wird wenigstens das Menschen- und Verfassungsrecht auf
Unverletztlichkeit der Person nicht angetastet. Ein Übergriff bleibt es trotzdem.
Ich frage mich, wie meine SZ - also auch mein Dr. Prantl – wohl urteilen und kommentieren würden, wenn es etwa
Jehovas Zeugen oder die Scientology-
Sekte wären, die ihren Neugeborenen, sagen wir: ein Tattoo aufs Gesäß tätowieren oder eine Zehe perforieren lassen würden. Ich bin viel zu lange aufmerksamer SZ-Leser, um die Antwort nicht zu wissen.
Dass termingleich
die Rabbiner-Konferenz so weit geht, von der "schlimmsten Bedrohung des Judentums seit dem Holocaust" zu trompeten – das hätte ich eines kritischen SZ-Kommentars für bedürftig
gehalten.
Und noch etwas: Die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung zu dieser Causa seit dem Kölner Gerichtsurteil, das
Sie "vorlaut" nennen, hat sich nach zwei Tagen ruhiger Rechtswürdigung inzwischen durch eine Flut von Gastbeiträgen aus interessierten, weil betroffenen Kreisen zu einer wahren Nachrichtenverzerrung
entwickelt, die sich u.a. in der heutigen Titelseiten-Headline manifestiert: "Juden fordern Recht auf Beschneidung".
Eben genau darum geht es nicht, und davon handelt das Kölner Urteil nicht.
Ein Recht auf Beschneidung steht nicht nur Juden und Muslimen zu, sondern jedem Deutschen – nämlich im Rahmen dessen, was unsere Rechtsordnung als Voraussetzung jeder autonomen Rechtshandlung
kodifiziert: Rechtsmündigkeit.
Jeder Mensch, gleich welcher Aberglaubensrichtung, welchen Bekenntnisses oder Mitgliedsstatus, kann an sich
körperliche Eingriffe vornehmen lassen, über die er selbst entschieden und im Vollbesitz seiner Hirnkräfte verfügt hat. Er kann sich beschneiden oder sonstwie verändern, amputieren, ergänzen,
visagieren, designen lassen (so bei der sog. Schönheitschirurgie, die aber wenigstens die Humanität der Anästhesie kennt).
Es geht um die Vornahme körperverletzender Eingriffe am unmündigen, entscheidungs- und verfügungsunfähigen
Säugling.
Insofern erlaubt sich die SZ mit diesem Aufmacher – leider kein Einzelfall –
eine veritable Lesertäuschung.
Ich bitte Sie herzlich, Ihre Wertungen zu überdenken.