Ténor brillant expansive
Charles Rousselière: Héros-lyrique exemplaire
Mehr als ein halbes Jahrhundert liegt nun jene Ära zurück, in der die französische Oper, ihr Betrieb, ihre Praxis einen maßgeblichen Beitrag zur Typologie der Bühnensänger, speziell im Musikdrama,
leisteten: mit dem Ténor-dramatique & -héroique, also dem dramatisch-heroischen Tenorprotagonisten in den Werken der Opéra-d’empire, der Grand-Opéra und den adaptierten Musikdramen von
Wagner bis Verismo. Die Dominanz ihrer Repräsentanten im internationalen Opernleben endete mit den Stars Thill, Vezzani, Verdière, Luccioni in den 1930-40er Jahren. Nachzügler wie René Maison oder
Guy Chauvet bestätigen bis heute den Verlust.
Vom Beginn der Tonreproduktion bis zum Aufkommen der elektrischen Klangaufzeichnung hingegen waren Angebot und Auswahl groß, der Stimmtypus konstituierend für den dominanten spätromantischen und
musikdramatischen Anteil am Repertoire der Opernhäuser in den französisch geprägten Kulturräumen. Und einige der mit großvolumigem, metallisch-strahlend auftrumpfendem Stimm-Material, und sängerisch
zugleich mit klassischem, stilsicherem, virtuosem Künstlertum überzeugenden Fachvertreter sind als Schwergewichte der Gesangshistorie tondokumentiert - von Escalais bis Thill, in erster Reihe mit den
Jahrhundertsängern italienischer, deutscher, anglischer, slawischer Provenienz.
Kritischen oder beglücktem Stimmfetischisten und Sammlern ist die Auswahl an Hörbeispielen aus dem „ewigen Vorrat archivierter Gesangskunst“ weithin noch ein Feld für Entdeckungen, und im Vergleich
mit späteren bis heutigen Alternativbesetzungen (vielfach Notlösungen) ein immer neues , oft überwältigendes Erlebnis. In der vorrangigen Phalanx der Gesangs-Zeitzeugen - Escalais, Affre, Alvarez,
Dalmorès, Scaremberg, Fontaine, Imbart de la Tour - ist einer lange ein Fall für motivierte Kenner geblieben, doch endlich einer CD-Edition mit umfassender Dokumentation bedürftig, jedenfall würdig:
Charles Rousselière aus dem Loire-Atlantique, Spinto-français von Graden, Universalist zwischen lyrischem und dramatisch-heroischem Fach - einer, der auch und gerade heute weltweit
in der ersten Reihe vermarktet würde.
Charles Rousselière
(* 17. Januar 1875 in Saint-Nazaire - † 11. Mai 1950 in Joué-lès-Tours)
Charles Rousselière entdeckte sein Stimmmaterial früh und sang bei diversen Anlässen auch öffentlich. Er erlernte zunächst das Handwerk eines Schmieds. Dann begann er ein Gesangsstudium bei dem
legendären Ténor-lyrique Albert Vaguet*) am Conservatoire de Paris. Zur Bühnenreife wurde er dort 1900 mit dem Prix du Conservatoire in der Kategorie Gesang ausgezeichnet. Im September desselben
Jahres debütierte er in der Arena von Béziers als Andros in der Uraufführung der Oper Promethée von Gabriel Fauré. Wenig später gab er seinen Einstand an der Pariser Grand-Opéra: als Samson in Samson
et Dalila, einer Zentralpartie für Ténor-héroique. Ein Karrierebeginn, der bereits viel über die Begabung des jungen Sängers aussagt.
An dem berühmten Opernhaus im Palais Garnier sang Rousselière 1901 in der Uraufführung der Saint-Saëns-Oper Les barbares. Er blieb zunächst für vier Spielzeiten festes Ensemblemitglied der Pariser
Oper, begann dann eine rege Tätigkeit als freier Gastsänger. Bis 1919 war er regelmäßig an der Opéra de Monaco zu erleben. Dort sang er Standardrollen im jugendlich-dramatischen Fach - dazu 1905 die
Verismo-Partie des Giorgio in der Uraufführung von Pietro Mascagnis Amica. Bereits 1906 verpflichtete ihn die Metropolitan Opera Comp. für Gastspiele in New York, wo er neben Geraldine Farrar als
Titelheld in Gounods Roméo et Juliette debütierte. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich übernahm er vermehrt dramatische Partien - so im hochdramatischen Genre mit den Titelrollen in Otello,
Lohengrin, Siegfried und Parsifal.
Spinto mit Lirico-Basis
So expansiv sich Rousselières Vokalressourcen entwickelten, als so vielfältig und variabel erwiesen sich seine Einsatzfelder. In Paris und Monte-Carlo wirkte er in zahlreichen Tenorpartien bei Ur-
und Erstaufführungen mit. So 1906 in Monte-Carlo in L'Ancêtre von Saint-Saëns und in Don Procopio von Bizet, 1909 in Le vieil Aigle von Xavier Leroux, 1913 in
Pénélope von Gabriel Fauré. Wenig später 1913 an der Opéra-Comique in Paris in Julien von Gustave Charpentier, 1914 in Paris in Béatrice von André Messager, im selben Jahr
in Cléopâtre von Jules Massenet. In der Spielzeit 1906-07 sang er an der Metropolitan Oper New York nach Roméo auch den Faust von Gounod, dann Gérald in Lakmé von Léo Delibes, Don
José in Bizets Carmen und Canio in Leoncavallos Paillasse (I Pagliacci). 1909 erschien er an der Mailänder Scala in der dortigen Premiere der Oper Theodora von Xavier
Leroux. Weitere Auftritte hatte er 1910 am Teatro Massimo von Palermo und am Teatro Colón von Buenos Aires (hier u.a. als Licinio in La Vestale von Spontini). Er gastierte auch an der
Londoner Royal Opera und an der Berliner Hofoper.
1913 gab Rousselière am Teatro Colón den Titelhelden in der dortigen (italienisch gesungenen) Erstaufführung des Parsifal - seit 1910 hatte er Wagner-Partien im Repertoire. In Paris stand er oft mit
seiner Gattin - der Sopranistin Jeanne Rousselière - auf der Bühne. Sein Rollenspektrum umfasste neben den zentralen Tenorpartien der französischen Oper auch international gefragte =
gastspielgeeignete Protagonisten wie Donizettis Fernand; Verdis Manrico, Don Carlos und Radames; Webers Max; Halévys Éléazar; Meyerbeers Robert und Raoul; Wagners Loge und Siegmund; Berlioz‘ Énée;
Mascagnis Turiddu; Massenets DesGrieux und Werther; Reyers Sigurd und Matho …
Jugendlich-brillante Klanggestalten
Charles Rousselière war also kein prototypischer Ténor-dramatique oder gar -héroique nach dem Muster der Escalais, Affre oder Vezzani. Anders als diese, die uns aus dem Fin-de-siècle herüberzutönen
scheinen, war er in Style-de-chant und Repertoire bereits ein moderner Sänger. Seine natürliche Vokalausstattung war die eines großvolumigen Lirico mit Optionen auf stimmtechnische Expansion. Bei dem
Meister der Phrasierung und Färbung Albert Vaguet hatte er mustergültig-klassische Intonation, Phrasierung und bruchlosen Registerausgleich erlernt. Er war überdies ein brillanter Praktiker der
Tonkonzentration im Vordersitz, womit er sein im Prinzip lyrisches Tonmaterial in gleißend-metallischen Klang zu überführen vermochte.
Von nahezu allen Tondokumenten Rousselières vernehmen wir eine schlank geführte, doch durchschlagskräftige, hell schimmernde jugendlich-dramatische Spinto-Stimme in der zeitüblichen
Dramatique-Typologie, nahe bei Alvarez, Dalmorès, Scaremberg, Fontaine. Bei aller dramatischer Vibranz vermittelt der Sänger selbst auf den frühesten Acoustics klassisch-lyrische Phrasierung und
variabel-schimmernden Klang. Seine Atemkontrolle ist meisterlich. Dezentes Vibrato belebt sein spezifisches Klangbild. Die Höhen sind mit Verstand und Dosierungsbewusstsein erzeugt, also nicht
schmetternd ausgestellt, sondern geschmackssicher in die Tonskalen integriert. In diesen Aspekten sängerischer Professionalität wird Rousselière auch Héroique-Partien wie Tannhäuser oder Siegmund
gerecht.
Der Acoustics-Experte Michael Seil, Partner des Hamburger Archivs, konstatiert:
„Rousselières Organ erklingt jugendfrisch, brillant-strahlend und ebenmäßig. Es gehört zu den schönsten französischen Heldenstimmen. Der Sänger überzeugt vor allem bei lyrischen Passagen und in der Mittellage, verströmt nobles Pathos, bietet klare, doch weich-fließende Artikulation, Farben, dynamische Stufungen. Die Stimme vermag zwischen kompakt-brillant (bei Wagner und Reyer) oder gefühlsreich-balanciert (in Ariosi & Cavatinen) zu changieren, ist lyrisch grundiert, kann mit festem Kern und gutem Volumen auch hell erstrahlen, ist im Vergleich mit naturwüchsigen Heroen-Stimmen aber kein Riesenorgan“.
Frühe Disques-Großauflagen
Schon früh konnte der Tenor Tonaufnahmen machen: die ersten für G&T (darunter Duette mit seiner Gattin Jeanne) und Odeon zwischen Februar und Dezember 1903: kaum glaubliche 98 Titel! Dann
zwischen 1904 und 1907 weitere 34 Titel für Pathé, HMV, Beka, Favorite. Gegen Ende seiner Karriere war er wieder hauptsächlich an französischen Opernhäusern tätig. Als 55jähriger ging er 1930 in kaum
geschwächter stimmlicher und vor allem sängerischer Form nochmals ins Aufnahmestudio - nun für Electric Records von Polydor. Nach dem Urteil von Vokalhistorikern ist seine beste Zeit nicht auf
Tonträgern dokumentiert - dennoch bietet das verfügbare Erbe viele starke Eindrücke. 1925 nahm er seinen Bühnenabschied. Bis zu seinem Tod wirkte er als Pädagoge in Paris.
Charles Rouseselières tönendes Erbe liefert in großer Zahl prototypische Studienstücke lyrischen wie dramatischen Tenorgesangs in Stil und Format der klassischen französischen École de chant -
insofern auch eine Fülle von Nachklängen einer maßstäblichen großen Ära. Er bereichert die Collection des grands chanteurs um bleibende Zeugnisse.
KUS
_____________________
*)
Andere Quellen nennen den Tenor Edmond-Alphonse Vergnet (1850-1904),
der u.a. 1880 am Théâtre Royal de LaMonnaie in Brüssel den Hohepriester
Shahabarim in der Uraufführung von Ernest Reyers Salammbô gegeben hatte.